Michael Missal
- Geboren: 31 Aug. 1852, Chodecz, Polen
- Getauft: 12 Sep. 1852
- Ehe (1): Emilie Louise Bodemer am 23 Okt. 1878 in Shitomir, Ukraine
- Gestorben: 8 Okt. 1933, Krenianka, Estland im Alter von 81 Jahren
Allgemeine Notizen:
Geboren am 12. September [31. August, erstes Datum ist wohl orthodoxer Kalender, zweites gregorianischer Kalender?] 1852 in Psary bei Choderz [?] (Polen). Von Beruf Lehrer, 35 Jahre im Amt. Gelernt bei dem Lehrer und Kantor Bokowski. Nach einjähriger Lehrertätigkeit heiratete er am 4.11.1878 Emilie Louise Bodemer. War sehr praktisch veranlagt. 3 Orgeln und 11 Geigen hat er in unermüdlichem Fleiss bis spät in die Nacht gebaut. Als Vorlagen dienten ihm Bücher. Gewissenhaft war er auch als Lehrer, fromm als Kantor. Als Kantor hielt er Gottesdienste, vollzog Taufen und Beerdigungen und unterrichtete die Konfirmanden. 1913 zog er aus Wolhynien, wo er gross geworden und im Amt gewesen war, nach Estland. Dort war er nur noch Privatlehrer. Er lebte dort von seiner Landwirtschaft. Aus Wolhynien nahm er sich Obstkerne mit, die er in Estland gepflanzt hat. Die Bäumchen hat er selbst veredelt und später viele schöne Früchte geerntet (Äpfel). [Er hat Bienen gezüchtet, Möbel gemacht.] Dem Garten galt seine besondere Liebe. Aus Deutschland liess er sich Erdbeerpflanzen mitbringen. Viel hat er gekränkelt. Er starb in Estland am Blinddarm. Geld hatte für ihn keinen wert. Nie verwaltete er die Hauskasse, obwohl er genau Kassenbücher führte. „Selbst ist der Mann", das war sein Grundsatz, nach dem er gearbeitet, getischlert, gemauert hat. Er war ein Tausendkünstler. Zu seinen Söhnen war er streng. Er war auch sehr streng zu seinen Schülern. Sie mußten zur Strafe auf Erbsen knien. Seine Geigen machte er aus alten Blockshäusern (Fichte). Das Unterteil machte er aus Ahorn. Fidelbogen war aus Lindenholz, Bogen aus Pferdeschwanz, er hat die Geige mit einem Geheimlack angestrichen. Er war ein Genie.
Briefe des Michael Missal an seinen Freund Lilge Kamenka, 8. März/26. April 1894
Geliebter Freund Lilge! Weil mich sehr nach dir bangt, kann ich nicht umhin, da jetzt wieder ein paar Familien nach Amerika ziehen, einige Zeilen an Dich zu richten und mitzugehen. Durch ein Telegramm sind wir benachrichtigt, daß Ihr alle glücklich und wohlbehalten in Amerika angekommen seid. Dies freut uns herzlich. Gott gebe, daß es Euch allen dort wohl gehe, sich alle Eure Hoffnungen zur Zufriedenheit erfüllen und Niemand von Euch den gethanen Schritt bedauern müsse. Geht dieser mein Wunsch in Erfüllung, dann sehen wir uns, so Gott will, hieniden noch wieder und theilen Leid und Freud. Ich hoffe, daß, wenn diese Zeilen in Deine Hände gelangen werden, wir bereits Briefe von Euch besitzen werden, die wir so sehnsüchtig und mit Schmerzen erwarten. Ob sie wohl unseren Entschluß, nach zu kommen, befestigen werden? Ist immer [?] und immer wieder unsere Frage. Trifft Letzteres ein wie werden sich da die Glieder hier regen zur Nachfolgung. Mir und noch einigen hier ist eine Broschüre, Canadas Beschreibung, zugesandt worden, welche für mich sowohl Anziehendes als auch Abschreckendes enthält. Anziehend ist: Gleichberechtigung, Duldung und Beschützung aller Nationen, gutes, billiges Land, das Reiseunkosten entschädigt und Wohlstand und Zufriedenheit in Zukunft hoffen läßt. Abschreckendes: bis 36° Kälte im Winter, im vierten Jahr erst die volle Ernte, welcher Umstand nöthigt vielleicht [?] in der Ferne, wer weiß daurch welche Arbeit, Verdienst zu suchen, denkt man sich noch hinzu, daß die verheerenden Stürme, von welchen so viel über Amerika erzählt wird, und wohlweislich verschwiegen werden, in Canada zuhause sind, die den Menschen die Wohnung über dem Kopfe wegtragen oder ihn unter den Trümmern desselben begraben - dann ist und bleibt es doch ein Jammerbild trotz seiner Paradiesauen. Theile dir mit, daß die Lehrer Adler und Gertz stellenlos sind. Sie können anderweitig noch das Lehreramt bekleiden, müssen aber erst eine Kolonie anzeigen, wo man sie wünscht. Jakob Paul ist wieder sehr an seinem Fuße erkrankt, so daß man seine Wiedergenesung bezweifelt. Dem Eisele seine Olga ist einige Tage nach dem Wochenbette erkrankt, ist seit einigen Tagen bei ihrem Vater und läßt sich hören, daß sie schwerlich wieder aufkommen wird. Schreib mir doch, was für Wetter Ihr dort habt, wie weit Ihr mit Eurer Wirtschaft seid, ob jeder etwas Wald auf seinem Lande hat, wenn nicht, wie weit der Wald entfernt, ob jeder Wiese bekommen hat, ob ein größeres Wasser nicht weit, ob die Erde vom Pfluge gut abgesetzt wird, da es schwarze, lockere Erde sein soll, ob mit Torf vermischt, wie weit die Stadt entfernt und ob Indianer in der Gegend sind. Es grüßt Euch alle herzlich meine Frau. Dich und die lieben Deinigen, wie auch Stolzes, Schulzes, Pauls und die übrigen Bekannten herzlich grüßend zeichnend, Dein Dich liebender Freund M. Missal
Kamienka, 5. Juli 1897
Lieber Freund L. Lilge! Es schien doch, als du noch hier warst, daß Du mir gut warst und ich hatte dich so lieb, wie meinen leiblichen Bruder, kann Deiner auch jetzt noch nicht vergessen, warum hast du denn meiner vergessen? Warum darf ich denn nicht von Dir hören, warum würdigst du mich keines Briefes mehr? Ich könnte ebenso handeln und denken: „Wie du mir, so ich dir", aber ich kann dir durchaus nicht böse werden, und daher kann ich auch nicht Böses mit Bösem vergelten, sondern will segnen. Nur eines muß ich Dir sagen, daß ich verdiente und unverdiente Vorwürfe von Dir eher ertragen würde, als das unverantwortliche Schweigen, und erhalte ich keine Antwort von Dir, dann bist Du der Letzte, dem ich getraut und vertraut habe - daß kannst Du dann verantworten. Allemal, wenn ich die Kolonie entlang ging und den Rest von Deinen Gebäuden sah, nämlich den Brunnen, welcher erst vorigen Herbst eingerissen wurde, dann fühlte ich jedesmal eine tiefe Sehnsucht im Herzen nach dir und dachte bei mir: „Ach, könnte ich doch zu meinem Herzensfreund gehen, welche Freude und Wonne wäre das!" Und du bist unbarmherzig und läßt Deinen Freund sich um Dich grämen; ist das recht oder soll's ewig so bleiben? Das kann und darf nicht sein um der ewigen Liebe willen, die ich und Du und alle wahren Christen anbeten. Frage mir den Heiland, ob Du mir antworten sollst. Wenn Du dies thun wirst, dann werde ich hoffentlich nicht mehr länger auf einen Brief warten müssen, auch wenn Du 5 Leute anbetteln müßtest. Ich will wissen, wie Dein und der Deinigen Befinden ist, was Ihr treibt, wie s Euch geht, überhaupt alles, was Ihr in Amerika getan und Schlechtes erlebt habt. Die Briefe kannst an K. Dorn in Shitomir adreßieren. Kornfeld lebt nicht mehr. Kamenka wird von Jahr zu Jahr kleiner und habe ich infolgedessen schon viel zu leiden gehabt. Werde wahrscheinlich nur noch bis zum nächsten Frühjahr hier sein. Ich bin mit den Meinigen noch gesund und munter. Indem ich und meine Frau Dich und Deine liebe Frau und Kinder herzlich grüßen, verbleibe ich Dein Freund M. Missal
Krenianka, 15, 15. Oktober 1902
Lieber Freund Lilge! Nachdem nun wieder einige Monate verlaufen, seit ich einen Brief von Dir bekommen, kann ich die Antwort nicht länger aufschieben. Vergangenes Jahr im November schenkte uns der Herr wieder ein Töchterlein, das in der Heil. Taufe den Namen Erna erhalten hat. Wir haben nun bereits 9 Kinder - 6 Söhne und 3 Töchter am Leben. Sie standesgemäß zu erziehen, will für einen Schulmeister in Wolhynien etwas heißen. Doch Gott sei Dank, bis jetzt hat noch keiner hungern brauchen. Die Ausgaben sind daher auch keine geringen - sie streifen an 500 Rubel jährlich. Hermann ist noch zu Hause, Eduard geht jetzt zur Lorfing [?? Evtl. ein Familienname und Ausbildungsbetrieb]. Emil hat das Seminar in Warschau beendet und ist Lehrer in Polen, wo? Weiß ich noch nicht - habe noch keinen Brief von ihm. Adolf habe ich ihm mitgegeben und soll, wennmöglich, nächste Jahr auch ins Seminar treten, er ist ein gewandter und gutmüthiger [?] Junge, lernt auch gut. Wir hatten dies Jahr einen so nassen Sommer, wie ich noch keinen denken kann. Kartoffeln pflanzten wir erst im Juni und weil im September schon starke Nachtfröste waren, sind sie nicht reif geworden. Kartoffeln sind allgemein nicht gewachsen. Hier ist viel verdorben und all andere Getreide zum teil ausgewässert. Wir hatten jedoch in der Ernte soviel schönes Wetter, daß die Ernte ohne erheblichen Schaden eingebracht werden konnte. An vielen Orten hat der Hagel großen Schaden angerichtet, hat auch Gebäude umgerissen und starke Bäume entwurzelt. Die Ernte ist bei allen dann noch eine mittelmäßige gewesen. Mein Schwager Boedemer zog voriges Jahr nach Sibirien. Es geht ihm aber dort nicht gut. Viele Deutsche ziehen jetzt nach Deutschland, besonders aus Ladke, denn Arndt nimmt den Ladkern das Land, ab, um davon ein Einzelgut zu machen. Adler schickt dann und wann aus Odessa einige Rubel für seine Kinder. Gertz haben die Helenowker mit Gewalt von sich getrieben. Wegen der Ernte hoffen sie Prozeß. Man hat ihnen den Brunnen und das Wohnzimmer zweimal mit Kot verunreinigt. An Gertz ist nicht viel dran, aber die Helenowker haben sich auch so verdorben, daß man sie kaum noch erkennt. Ich sollte zurück kommen; es hätte auch sein können, wenn jene Sudelei nicht geschehen wäre. Bei unserem Pastor Johannson bekommt Gertz keine Stelle; wenn er beim Shitomirer keine finden sollte, so wird er müssen brach liegen oder einen anderen Beruf ergreifen. Kamenka hat schon den 3. Lehrer nach mir. Redlich legt sein Amt nieder und geht auf sein Land. Ich sollte sein Nachfolger werden, weil mir aber meine Gemeinde 17 Rubel zugestanden hat, bleibe ich noch hier. Beide Schneider sind noch auf ihren Stellen. Krüger, Schneiders Schwiegervater, ist nach dem Kaukasus gezogen und hat sich dort Land gekauft. Finke ist Küster in Schadowa. Ich freue mich, daß der Burenkrieg ein Ende genommen hat. Es war nach meiner Ansicht, der ungerechteste Krieg, den jeh die Welt gesehen hat - wegen des Goldes und der Diamanten von den Engländern vom Zaune gebrochen und mit solcher Grausamkeit durchgeführt, die ihres Gleichen nicht hat. Kein Wunder, daß es sich dadurch den Haß aller edelgesinnten Menschen zugezogen hat. Ewige Schmach und Schande ihren Anstiftern! Denn werden sie selig werden, wird es der Teufel auch. Gott hat zu allem still geschwiegen, wird aber zu seiner Zeit laut mit ihnen reden. Indem ich weiter nichts zu berichten habe, grüße ich, nebst Frau, Dich, Deine liebe Frau und Deine lieben Kinder aufs Herzlichste, und schließe den Brief in Hoffnung, wieder einen Brief zu erhalten. Dein Dich liebender M. Missal
Bericht über Michael Missal (1852-1933, gestorben in Heimtal, Estland) Heute hören wir sie [die Kirchenglocken] wieder, schwerer und ernster als sonst. Jeder weiss, was sie zu sagen hat. Der alte Vater Missal lag ja schon im Sterben. Nun ist es vorbei. Ein schweres, hartes Leben voll Inhalt ist zu Ende. Nun liegen die knöchernen Arbeitshände ineinandergeschoben auf der Decke und rühren sich nicht mehr. Ein wirkliches Kolonistenschicksal hat sich erfüllt, denn es ist ein steter Kampf um Volkstum, Familie, Haus und Hof gewesen. Und von den 6 Söhnen ist keiner in seiner letzten Stunde bei ihm gewesen und keiner von ihnen hat ihn zu Grabe geleiten können: Einer fiel im russisch-iapanischen Kriege [1904], einer starb an den Folgen des [1.] Weltkrieges; einer lebt als Farmer in Amerika. und einer ist Lehrer an einer deutschen Schule bei Thorn. Ein anderer betraut eine deutsche Schule im Kaukasus und der letzte ist im [1.] Weltkrieg verschollen. In Wolhynien war der Alte Dorflehrer. Sein Drang zu schaffen und vorwärts zu kommen, liess ihm neben seiner vielseitigen geistigen Tätigkeit keine Ruhe. So hat er für 3 deutsche Kirchen in Wolhynien Orgeln gebaut. Viele seiner Söhne und Enkelsöhne können stolz sein auf ihre guten Geigen, die ihnen ihr Grossvater verfertigte. - Wie es so einem suchenden, regen Menschen eigen ist, mühte er sich ab, sich mit allen Dingen auseinanderzusetzen. Durch viel gründliches Lesen hatte er sich einen weiten Horizont geschaffen. Und nur aus diesem Suchen ist es zu verstehen. dass dieser 80·jährige Greis so dem Zuge der neuen Zeit offen war, Eines Tages rief er seine Enkelsöhne zu sich ans Krankenlager: Und dann nach einer kleinen Weile: Wie der alte Missal immer deutlicher merkt: es geht zum Sterben, da lässt er sich noch einmal das Pferd aufzäumen, das ihm am liebsten war. Seine Schwiegersöhne tragen ihn auf den Wagen, und dann fährt er noch einmal, Zum allerletzten Male auf die Felder, zu sehen, wie die Wintersaat steht und um von jedem Acker Abschied zu nehmen, vom Kleeschlag. von den Wiesen, von dem Stück, wo im letzten Jahre Hafer war und nebenan, wo die Rüben standen. - Dann noch einen Blick zu den Pflügen und Wagen, die zum Teil noch aus Wolhynien stammen, in den Viehstall und zu den Pferden. Ach ja die Pferde, jedes hat seine eigne Geschichte, sie haben so manche Arbeit zusammen getan und sind rechte Kameraden gewesen. Er weiss genau: Nur ein einziges Mal werden sie mich noch fahren -- zum Friedhof. Wie er dann nach Hause kommt~ hat er sein Zimmer auch nicht wieder verlassen. Vom Fenster aus kann er seine Bienen sehen, seine kleine Baumschule und die grossen Obstbäume. Die Edelreiser hat· er oft von weit her geholt und nun tragen sie schon so reich. Wenn er das alles so sieht, durchrinnt ihn wärmend eine leise Freude, denn er hat ja doch alles selber gepflanzt und grossgezogen. In Ruhe kann er den Tod erwarten. Seine Kinder sind gesund und tüchtig. Sie können das Erbe antreten, es hüten und mehren, bis sie es dereinst an ihre Kinder weitergeben werden. Aus: Baltische Monatshefte, Jahrgang 1934, Verlag der Aktien-Gesellschaft „Ernst Plates", Riga, S. 533f.
Michael heiratete Emilie Louise Bodemer, Tochter von Jakob Bodemer und Rosalie Stucke, am 23 Okt. 1878 in Shitomir, Ukraine. (Emilie Louise Bodemer wurde geboren am 17 Sep. 1863, getauft am 29 Sep. 1863 und starb am 20 Okt. 1941 in Heimthal.)
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